Sichtbarkeit als Widerstand: Basta und die feministische Dokumentation geschlechtsspezifischer Gewalt in Südtirol
Geschlechtsspezifische Gewalt stellt ein strukturelles Problem dar, das in nahezu allen gesellschaftlichen Bereichen wirksam ist – auch in jenen, die sich als Orte der Aufklärung und Emanzipation verstehen. Universitäten gelten als Räume kritischer Reflexion und intellektueller Entfaltung. Dennoch zeigen wissenschaftliche Studien (vgl. Cantor et al., 2015; Cantor et al., 2019; Steele et al., 2023; Tarzia et al., 2023) ebenso wie individuelle Erfahrungsberichte, dass die Studienzeit oft auch von Machtmissbrauch, Gewalterfahrungen und Geschlechterungleichheit geprägt ist.
Geschlechtsspezifische Gewalt beinhaltet dabei neben sexualisierten Übergriffen auch psychische Kontrolle, ökonomische Abhängigkeiten, soziale Ausgrenzung und subtile Disziplinierungen des Körpers, des Verhaltens und der Sprache. Diese Formen von Gewalt werden besonders durch starre Hierarchien, Konkurrenzdenken und Leistungsdruck begünstigt – wie es etwa im tertiären Bildungsbereich der Fall ist.
Geschlechtsspezifische Gewalt im universitären Umfeld: ein strukturelles Problem?
Auch die Empirie liefert Beweise: Internationale Studien belegen die hohe Verbreitung geschlechtsspezifischer Gewalt im universitären Umfeld. Laut einer aktuellen Metaanalyse aus dem Jahr 2023 (vgl. Steele et al.) waren durchschnittlich 17,5% der Studentinnen und 18,1% der trans und nicht-binären Studierenden von sexuellen Übergriffen betroffen. Besonders häufig kam es zu erzwungenen sexuellen Berührungen, gefolgt von erzwungenem Sex, versuchter Vergewaltigung und Vergewaltigung.
Universitäre Strukturen begünstigen nicht nur geschlechtsspezifische Gewalt, sondern erschweren auch deren Benennung und Sanktionierung: Studierende befinden sich oft in einer ökonomisch und emotional vulnerablen Situation, durchlaufen prekäre Übergangsphasen, leben in einem neuen sozialen Umfeld – in vielen Fällen fernab ihres bisherigen Lebensmittelpunkts in einer fremden Stadt. Gleichzeitig bestehen starke Abhängigkeitsverhältnisse – beispielsweise zwischen Lehrenden und Studierenden, aber auch innerhalb von Seminar- und Forschungsgruppen oder bei Praktikumsstellen.
Erhebungen wie die Campus Climate Survey On Sexual Assault and Sexual Misconduct (vgl. Cantor et al., 2015; Cantor et al., 2019), die von der Association of American Universities in Auftrag gegeben wurde, um Richtlinien zur Prävention und Maßnahmen gegen sexuelle Übergriffe für Hochschulen zu entwickeln, zeigen, dass der Großteil der Betroffenen keine Meldung erstattet. Dies geschehe meist aus Angst, Scham oder dem Gefühl heraus, dass es keine Konsequenzen für die Täter gäbe und „ohnehin nichts passieren würde“. Die Normalisierung sexueller Grenzüberschreitungen und das Nicht-Eingreifen der Institution tragen laut der Studie somit wesentlich zur Aufrechterhaltung des Problems bei.
Diese gesellschaftliche Relativierung führt oft dazu, dass viele Betroffene ihre Erfahrungen zunächst nicht als „Gewalt“ einordnen – weil diese nicht dem dominanten Narrativ von Vergewaltigung entsprechen – und sich fragen, ob ihr Erlebtes „zählt“ und „schlimm genug“ war. Außerdem können Gewalterfahrungen zu tiefen Schamgefühlen und Selbstvorwürfen führen (vgl. Tarzia et al., 2023). Das bedeutet: Gewalt wirkt nicht nur im Moment des Übergriffs, sondern hat häufig massive Folgen für Selbstbild, psychische Gesundheit, Studienverlauf und gesellschaftliche Teilhabe der Betroffenen.
Gewalt benennen, Räume schaffen
Die Dokumentation einzelner Fälle ist ein notwendiger erster Schritt – doch die Auseinandersetzung mit geschlechtsspezifischer Gewalt muss darüber hinausgehen. Es braucht eine Kritik an den strukturellen Bedingungen, die diese Gewalt ermöglichen, und an den Mechanismen, die ihre Sichtbarmachung verhindern.
Feministische Forschung und studentischer Aktivismus haben in den vergangenen Jahrzehnten zentrale Weichen gestellt. Denn: Sichtbarkeit verändert die Wahrnehmung. Doch es braucht Safe Spaces – Räume, in denen Betroffene sprechen können, ohne rechtfertigen zu müssen; Räume, in denen Gewalt benannt werden kann, ohne dass sie relativiert wird; Räume, in denen kollektives Wissen entsteht, um patriarchale Strukturen sichtbar zu machen.
Zwischen Sichtbarmachung und Strukturkritik: Die dokumentarische Praxis des Kollektivs Basta
Ein Beispiel für eine solche Praxis in Südtirol ist das feministische Kollektiv basta, welches anonymisierte Erfahrungsberichte von Frauen* sammelt, die geschlechtsspezifische Gewalt erlebt haben. In unzähligen Erfahrungsberichten wird deutlich, dass Grenzüberschreitungen, die Studentinnen* erlebt haben, in vielfältigen Situationen passieren – sei es auf dem täglichen Weg zur Uni, in der Betreuungssituation durch Lehrende oder im weiteren studentischen Umfeld, wie auf Partys oder auf Zugfahrten zwischen Heimatort und Universitätsstadt.
Ergänzt werden die Berichte durch eine Südtirol-Landkarte, die zeigt, wo die Übergriffe stattgefunden haben – entkoppelt von den jeweiligen Erzählungen, um die Anonymität zu wahren. Ziel ist es, die räumliche Allgegenwärtigkeit von geschlechtsspezifischer Gewalt auch in Südtirol sichtbar zu machen und ihren strukturellen Charakter darzustellen. Zugleich macht die kartografische Darstellung deutlich: Geschlechtsspezifische Gewalt ist kein importiertes Problem und auch kein Randphänomen. Sie geschieht mitten unter uns – im familiären, nachbarschaftlichen, dörflichen Umfeld, im Freundes- und Bekanntenkreis, in Bildungsinstitutionen usw. Damit widerspricht die Visualisierung einer weit verbreiteten Haltung, die Verantwortung im Außen zu verorten und die vorherrschenden, strukturellen Gewaltverhältnisse zu ignorieren. In ihrer Gesamtheit bilden die Berichte somit ein kollektives Gedächtnis geschlechtsspezifischer Gewalt. Basta steht an dieser Stelle für eine Form feministischer Intervention, die nicht mehr länger auf institutionelle Reaktionen wartet, sondern eigene Räume der Sichtbarkeit schafft.
Weitere Einblicke findest du auf Instagram und Facebook unter @basta.suedtirol0
Quellennachweis:
Cantor, David/Bonnie Fisher/Susan Chibnall/Reanne Townsend/Hyunshik Lee/Carol Bruce/Gail Thomas/Westat (2015): Report on the AAU Campus Climate Survey on sexual assault and sexual misconduct, The Association Of American Universities, report, Westat, [online] https://gag.academic.wlu.edu/files/2015/09/Report-on-the-AAU-Campus-Climate-Survey-on-Sexual-Assault-and-Sexual-Misconduct.pdf.
Cantor, David/Bonnie Fisher/Susan Chibnall/Shauna Harps/Reanne Townsend/Gail Thomas/Hyunshik Lee/Vanessa Kranz/Randy Herbison/Kristin Madden/Westat (2019): Report on the AAU Campus Climate Survey on Sexual Assault and Misconduct, The University Of Virginia, Westat, [online] https://ira.virginia.edu/sites/g/files/jsddwu1106/files/2022-11/aau-uva-campus-climate-survey-report-2019_508.pdf.
Steele, Bridget/Mackenzie Martin/Alessandra Sciarra/G. J. Melendez-Torres/Michelle Degli Esposti/David K. Humphreys (2023): The Prevalence of Sexual Assault Among Higher Education Students: A Systematic Review With Meta-Analyses, in: Trauma Violence & Abuse, Bd. 25, Nr. 3, S. 1885–1898, [online] doi:10.1177/15248380231196119.
Tarzia, Laura/Katrina Henderson-Brooks/Surriya Baloch/Kelsey Hegarty (2023): Women Higher Education Students’ Experiences of Sexual Violence: A Scoping Review and Thematic Synthesis of Qualitative Studies, in: Trauma Violence & Abuse, Bd. 25, Nr. 1, S. 704–720, [online] doi:10.1177/15248380231162976.
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