Gerechtigkeit – hohle Phrase oder wichtige Position?
Die Gerechtigkeit lässt sich, wie etwa auch Freiheit oder Gleichheit, in eine Reihe von Begriffen einordnen, deren Wichtigkeit uns zwar intuitiv klar ist, die im allgemeinen Diskurs jedoch meist zu schwammig und pathetisch aufgebläht sind, um wirklich handlich zu sein. Vorbewusst nehmen sie die Funktion eines Grundpfeilers menschlicher Moral und im idealen Fall auch der Gesellschaft ein. Diese weitläufigen Kategorien laufen also ständig im Prozess des menschlichen Denkens und Urteilens implizit mit. Aber da es im Konkreten schwieriger wird, gerecht von ungerecht, frei von unfrei zu unterscheiden, verzichten wir meist auf derart vage Bestimmungen.
Verhält es sich also mit der Gerechtigkeit gleich wie mit dem viel umkämpften Begriff der Freiheit? Ist die Gerechtigkeit also nicht mehr als eine abgedroschene Phrase? Auf den ersten Blick scheint es so, denn Freiheit wird etwa herangezogen, um sowohl das Recht auf den Besitz einer automatischen Maschinenpistole oder das Rasen auf der Autobahn zu verteidigen als auch um freizeitlichen Drogenkonsum oder Flucht im Streben nach einem besseren Leben im Ausland zu legitimieren. In dieser abstrakten Form wird also vor allem das phrasenhafte dieser Begriffe deutlich. So können diese Begriffe von konträren Positionen für gegenteilige Anliegen genutzt und instrumentalisiert werden und niemand muss für deren Verwendung Rechnung tragen.
Eine wirkliche Funktion, um also nicht bloß als Phrase eingesetzt zu werden, gewinnt die Gerechtigkeit somit erst durch eine Spezifikation, die ihr meist vorangestellt wird. Welches Bild, welcher Gedanken geht euch etwa beim abstrakten Begriff der Gerechtigkeit durch den Kopf? Chancengerechtigkeit, Soziale Gerechtigkeit, Generationengerechtigkeit, Geschlechtergerechtigkeit oder Verfahrensgerechtigkeit sind Beispiele solcher Spezifikationen, die den vormals unhandlichen, abstrakten Begriff zu einem konkreten, mit Inhalt füllbaren Begriff, ja in einem zweiten Schritt auch zu einer konkreten politischen Forderung machen! Wenn ihr nun die Augen wieder schließt und an Generationengerechtigkeit oder soziale Gerechtigkeit denkt, schweben euch vermutlich konkrete Bilder und Gedanken vor, über die man reden, nachdenken und diskutieren kann (und sollte?).
In dieser Ausgabe des Skolast gibt es ein solches Panoptikum der Gerechtigkeit zu betrachten. Der grundgelegte, konkrete Gerechtigkeitsbegriff wird euch in den einzelnen Artikeln begegnen. Auseinandersetzungen über Feminismus, Klima, Klassenkampf oder kulturelle Fragen werden kritisch beleuchtet. Doch wie lässt sich diese Vielzahl, dieses Durcheinander an Fakten, Fragen und Forderungen wieder einfangen und auf etwas Überliegendes zurückführen? Droht so die Gerechtigkeit in ein Loch des Definitions-Relativismus zu fallen? Die von uns vorgeschlagene Leiter raus, unser Denkangebot ist die Intersektionalität. Dieser Begriff nähert sich der Gerechtigkeit über eine Form ihrer Verneinung, der Diskriminierung. Verschiedene Kategorien wie Klasse, Ethnie, Geschlecht stehen miteinander in Wechselwirkung und erzeugen meist nicht eindimensionale, gesellschaftliche Hierarchen, sondern ein komplexes Netz von Privilegien und Diskriminierung das es (insbesondere in Hinblick auf die Südtiroler Gesellschaft) zu beleuchten gilt.
Unter dieser Perspektive wird zudem klar, dass es sinnlos ist, einzelne Kämpfe und Forderungen nach Gerechtigkeit für ein umfassendes Verständnis zu opfern. Die geschlechtergerecht gestaltete Führungsriege eines Hedgefonds ist ebenso absurd wie der Versuch, Sozialleistungen an Hautfarbe oder Herkunft zu knüpfen (Meloni lässt grüßen). Das Voranstellen einer Kategorie und die Vernachlässigung anderer führt meist dazu, dass sich Gerechtigkeit in ihr Gegenteil verkehrt. Gerechtigkeit wird beschränkt gedacht, anstatt ihr einen expansiven Charakter zu verleihen. Uns schwebt daher ein breit aufgestellter ökologisch, sozialistisch, feministischer Gerechtigkeitsbegriff vor, über den sich vortrefflich nachdenken und streiten lässt.
Und gerade, weil wir nur über ihn nachdenken/schreiben, und keine konkrete Politik machen müssen sind wir frei von deren Sachzwängen und können im Wesentlichen sagen:
Che cazzo ci pare.
-Kevin Klotz
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