Klassenkampf im Klassenzimmer
Christopher Gardner: [after playing basket ball] „Hey. Don’t ever let somebody tell you…
You can’t do something. Not even me. All right?“
Christopher: „All right.“
Christopher Gardner: „You got a dream… You gotta protect it. People can’t do somethin’ themselves,
they wanna tell you you can’t do it. If you want somethin’, go get it.“
- „Pursuit of Happiness“ (2006)
„If I can’t do it, homie
It can’t be done
Now I’ma let the champagne bottle pop, I’ma take it to the top
For sure, I’ma make it hot, baby.“
- 50 Cent, „Get Rich or Die Tryin’“ (2003)
,,You have a mind that’s an asset, not a liability.
Education is the one thing no one can take away from you.”
- “Good Will Hunting” (1997)
Zitate, Aussagen oder Redensarten wie diese hat wahrscheinlich ein jeder schon gehört. Ob in Filmen, Musik, Serien oder bei persönlichen Gesprächen, in unserer modernen kapitalistischen Gesellschaft lässt sich ein Narrativ immer wieder finden: Der soziale Aufstieg ist möglich, wenn man sich nur genügend anstrengt. Leistung zahlt sich aus, harte Arbeit und Entbehrungen müssen in Kauf genommen werden, denn am Ende wird man dafür belohnt. Ein besonders zuverlässiges Mittel, um diesen erstrebenswerten sozialen Aufstieg zu erreichen, ist Bildung. In Armuts- und Ungleichheitsdebatten wird von konservativer und liberaler Seite häufig auf den Bildungsaufstieg als erfolgreichsten Weg zur Armutsbekämpfung verwiesen. Doch wie sieht es im österreichischen Bildungssystem wirklich aus? Ist Bildung die Wunderwaffe gegen Armut und das Wundermittel für den sozialen Aufstieg, so wie es häufig propagiert wird? Und welche ambivalente Rolle erfüllt das Bildungssystem in unserer Gesellschaft?
Bildung in Zahlen
Bei der Betrachtung des österreichischen Schulsystems ist es von zentraler Bedeutung, dieses mehrgliedrige System von Einheitsschulen, die in Ländern wie etwa Italien vorherrschen, abzugrenzen. Während in der vierjährigen Volksschule alle Schülerinnen und Schüler ein gemeinsames Bildungsumfeld teilen, werden diese in Österreich bereits mit 10 Jahren, also nach der Volksschule, aufgrund ihrer Leistungen oder aufgrund von Empfehlungen durch Lehrpersonen auf verschiedene Schultypen aufgeteilt. Die allgemeinbildenden höheren Schulen (AHS) zielen auf eine akademische Ausbildung ab, während Neue Mittelschulen (NM) und Berufsbildende Mittlere und Höhere Schulen (BMHS) Berufsbildung priorisieren. Personen, welche eine NM oder BMHS besuchen ist es zwar noch möglich eine Hochschulbildung zu erlangen, dieser Weg wird jedoch relativ selten eingeschlagen. Diese frühe Selektion führt zu einem sehr hohen Anteil migrantischer Personen und von Personen aus niedrigen sozialen Schichten in den NM oder den BMHS, während in den Gymnasien Akademikerkinder und Personen aus höheren sozialen Schichten überrepräsentiert sind. Diesem System steht das italienische Einheitsschulsystem gegenüber. In diesem sind sowohl die Volksschule als auch die Sekundarstufe I (Mittelschule) seit den 60er Jahren als Einheitsschule organisiert, es erfolgt also keine Selektion bis zum 8. Schuljahr, was meist dem 14. Lebensjahr entspricht. Die darauffolgende Aufteilung zwischen Gymnasium, Fachoberschule oder Berufsschule erfolgt im Wesentlichen durch die freie Wahl der Schülerinnen und Schüler. Obwohl das italienische Schulsystem sicherlich nicht frei von Problemen ist, ermöglicht es also ein wesentlich längeres gemeinsames Bildungsumfeld, fördert die Durchmischung der sozialen Klassen und selektiert in einem geringeren Ausmaß. Ein weiterer wichtiger Unterschied zwischen den beiden Systemen besteht darin, dass das österreichische Bildungssystem weiterhin Sonderschulen für Menschen mit Behinderung vorsieht, obwohl diese eindeutig gegen die UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen verstoßen. In Italien wurden Sonderschulen hingegen bereits 1977 abgeschafft und Kinder mit Beeinträchtigung werden verpflichtend in Regelschulen eingeschult. Dieser, häufig von linker Seite geforderte Fokus auf Inklusion, hat dazu geführt, dass Italien international als Vorreiter und als Vorbild inklusiver Pädagogik gilt.
Nach dieser grundlegenden Differenzierung wollen wir uns einigen Zahlen zuwenden, um eine Antwort auf die zuvor gestellte Frage zu finden, ob Bildung wirklich das Wundermittel gegen Armut darstellt. Zwar hat der Einfluss der sozialen Herkunft auf den Bildungsabschluss in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts abgenommen, die Schulbildung der Eltern und die Herkunftsregion sind jedoch immer noch wichtige Determinanten der Bildungslaufbahn. So besuchen etwa 41% aller 10- bis 14-Jährigen aus nicht-ausgrenzungsgefährdeten Haushalten eine AHS-Unterstufe (Gymnasium), hingegen nur 23% aus armuts- oder ausgrenzungsgefährdeten Haushalten (1). Armut im Kindesalter zieht also häufig Bildungsarmut nach sich. Kinder aus sozial niedrigeren Schichten weisen zudem einen höheren Anteil in Sonderschulen auf und erhalten seltener Empfehlungen für ein Gymnasium (2). Selbst bei gleicher Intelligenz haben Kinder oberer Einkommenssegmente eine 6-7-fach höhere Wahrscheinlichkeit für eine Gymnasiumempfehlung (3). Daraus lässt sich also schließen, dass im Klassenzimmer nicht nur die persönliche Leistung zählt, andere Faktoren wie etwa die soziale Klasse scheinen erheblichen Einfluss zu nehmen. Bildung kann also auf individueller Ebene zwar die Chancen auf Wohlstand erhöhen, aber Menschen aus wohlhabenden Familien sind selbst bei schlechter Bildung nicht armutsgefährdet (4).
Auch in der Hochschulbildung sind die Zahlen ziemlich ernüchternd: etwa 33% der österreichischen Erstimmatrikulierten haben einen Vater mit Hochschulabschluss, bei 65% von diesen sind beide Eltern Akademiker, demgegenüber stehen nur etwa die 4% der Studierenden, deren beide Eltern lediglich einen Pflichtschulabschluss haben (5). Auch andere Diversitätskategorien scheinen hier Einfluss zu nehmen;, obwohl im Durchschnitt über alle Studiengänge rund die Hälfte der Absolventen weiblich ist, sinkt ihr Anteil mit jeder weiteren Qualifikationsstufe:. Unter Habilitanden beträgt der Frauenanteil nur noch ein Fünftel und unter Professoren ist er noch etwas geringer (6).
In Anbetracht dieser Zahlen müssen wir uns also fragen: Ist das Klassenzimmer wirklich ein neutraler Ort, an dem nur Leistung zählt und der Aufstieg aus den unteren sozialen Klassen möglich wird? Oder gibt es möglicherweise Theorien, welche die Funktion von Bildungsinstitutionen in unserer Gesellschaft besser erklären und beschreiben können?
Der Mythos der Meritokratie
Um diese Fragen zu beantworten und um zu verstehen, welche Vorstellungen über das Bildungssystem in unserer Gesellschaft dominieren, ist es hilfreich, den ambivalenten Begriff der Meritokratie einzuführen. Meritokratie oder Leistungsgerechtigkeit meint „eine bestimmte Gesellschaftsordnung oder Herrschaftsform, in der die gesellschaftliche Positionszuweisung nach persönlicher Leistung oder individuellem Verdienst erfolgt“. Historisch sind die politischen Forderungen nach einer gesellschaftlicher Umsetzung der Meritokratie mit den Interessen des erstarkenden Bürgertums im 19. Jahrhundert verbunden. Nach diesem liberalen Entwurf sollte die Definition des gesellschaftlichen Status und die Legitimation von Herrschaft vermehrt durch erworbene Eigenschaften und eigene Anstrengung erfolgen. Im Gegensatz dazu steht das bis dahin vorherrschende feudale System, in welchem Status und Herrschaft vorwiegend durch adelige Herkunft definiert und legitimiert worden sind. Das ambivalente Element am Begriff der Meritokratie wird in Anbetracht seiner Herkunft deutlich, er stellt nämlich eine neologistische Verknüpfung der beiden Begriffe „merit“ (Leistung) und „aristocracy“ dar und wurde vom britischen Sozialisten Alan Fox in den 50er Jahren des 20. Jahrhunderts eingeführt, „der ihn in klar abwertender Weise als Kritik der bestehenden Verhältnisse verstand“. Heute ist von dieser abwertenden Konnotation des Begriffs nicht viel übrig geblieben. Meritokratie wird meist als anzustrebendes Ideal verstanden und stellt eine zentrale normative Grundlage unserer modernen Gesellschaften dar. Empirisch lassen sich hohe Zustimmungswerte zu meritokratischen Prinzipen feststellen. Auf theoretischer Ebene ist es jedoch zusätzlich wichtig, die Zustimmung zu meritokratischen Prinzipen und den Glaube an die faktische Geltung der Meritokratie in der Gesellschaft zu unterscheiden, denn zweitere zieht häufig eine Legitimation von Ungleichheit und der bestehenden politischen Verhältnisse nach sich (7).
Das Bindeglied zwischen diesem zentralen Begriff der Meritokratie und den zuvor explizierten Bildungsinstitutionen sollte deutlich werden, wenn man sich vor Augen führt, dass Universitäten und Bildungsinstitutionen im Allgemeinen meist mit einem durch und durch meritokratischen Nimbus belegt sind, in dem nur Leistung für den akademischen oder schulischen Erfolg zählt. Somit werden auch akademische Abschlüsse häufig auf die persönliche Leistung oder Intelligenz zurückgeführt und als wesentlich für den sozialen Status des Individuums betrachtet. Die zuvor angeführten Zahlen sollten jedoch deutlich machen, dass das Klassenzimmer eben kein faires, meritokratisches Spielfeld darstellt, sondern viel eher mit einem Hundertmeterlauf vergleichbar ist, in dem viele außerhalb des Stadiums loslaufen müssen, andere hingegen einige Meter vor dem Ziel starten. Die Rolle des Bildungssystems in unserer modernen kapitalistischen Gesellschaft ist also doch deutlich komplexer und ambivalenter, als es Versprechen von Aufstieg und Leistungsgerechtigkeit erahnen lassen. Im folgenden Teil soll zur Aufschlüsselung dieser multiplen, interagierenden, möglicherweise auch Ungleichheit verstärkenden, Funktionen des Bildungssystems Bourdieus Soziale Reproduktionstheorie vorgestellt werden.
Kollektiver Aufstieg oder Soziale Reproduktion?
Wie bereits in dem vorherigen Artikel „Why Class (still) Matters“ kurz ausgeführt, hat der bedeutende französische Soziologe Pierre Bourdieu den marxistischen Klassenbegriff durch die Unterscheidung mehrerer Kapitalsorten präzisiert und weiterentwickelt. Während in dem vorherigen Artikel soziale Klasse primär aus der marxistischen Perspektive betrachtet wurde, werde ich in diesem Artikel Bourdieus Klassenbegriff ins Zentrum stellen. Dies soll zudem verdeutlichen, dass die Kategorien Wahr/Falsch zumeist nicht geeignet sind, um Theorien zu kategorisieren. Denn eine Theorie kann viel eher nützlich in einer bestimmten Situation sein, wenn sie es ermöglicht, für die Analyse relevante Dinge zu sehen, kann jedoch in anderen Situationen unnütz sein, wenn sie den Blick auf wichtige Kategorien versperrt.
Die Unterteilung in mehrere Kapitalformen unterscheidet Bourdieus Klassentheorie somit von einer orthodox-marxistischen, in welcher die Klasse des Individuums allein über den Besitz oder Nicht-Besitz der Produktionsmittel definiert wird. Dennoch geht auch Bourdieu davon aus, dass das ökonomische Kapital das dominierende Ordnungsprinzip in kapitalistischen Gesellschaften darstellt. Das ökonomische Kapital, oder der materielle Reichtum einer Person, ist also für die Positionierung des Individuums in der sozialen Hierarchie entscheidend. Neben diesem zentralen Ordnungsprinzip wird bei Bourdieu noch das soziale Kapital unterschieden, mit welchem insbesondere die sozialen Beziehungen oder das soziale Netzwerk einer Person bezeichnet werden, das Vitamin-B gewissermaßen. Diese Kapitalform würde beispielsweise dann zum Tragen kommen, wenn einem jungen Studierenden die soziale Vernetzung des Vaters dabei hilft, ein Praktikum bei einer renommierten Zeitschrift zu ergattern, was seinen Lebenslauf aufbessert und den sozialen Aufstieg oder Klassenerhalt wahrscheinlich macht. Insbesondere für den schulischen und universitären Kontext stellt die bourdieu’sche Kategorie des kulturellen Kapitals eine zentrale Analyseeinheit dar. Bei dieser Kapitalform wird zwischen „inkorporiertem“, „objektiviertem“ und „institutionalisiertem Kulturkapital“ unterschieden. Inkorporiertes Kulturkapital meint das persönliche Wissen, die Fähigkeiten und Bildung oder auch den ästhetischen Geschmack einer Person, welche durch formale und informelle Prozesse erworben wird. Unter objektiviertem Kulturkapital versteht Bourdieu hingegen den Besitz von Objekten, die kulturellen Wert repräsentieren, wie etwa der Besitz vieler Bücher oder Musikinstrumente. Das institutionalisierte Kulturkapital ist für den vorliegenden Artikel besonders relevant, da es die Anerkennung und Validierung des kulturellen Wissens durch Institutionen wie Schulen oder Universitäten bezeichnet.
Neben diesen drei zentralen Kapitalformen führt Bourdieu noch das symbolische Kapital an, welches als eine Art Ansehen oder Prestige der Person in der Gesellschaft verstanden werden kann. Es basiert auf der Anerkennung des Besitzes der anderen drei Kapitalformen und impliziert somit in gewisser Weise die Akzeptanz der drei zuvor genannten Kapitalformen durch die Beherrschten. Diese Legitimierung der sozialen Hierarchie durch die von ihr Benachteiligten wird bei Betrachtung der Rolle der Bildungsinstitutionen relevant werden. All diese Kapitalformen sind nach Bourdieu eng verflochten und bestimmen in ihrem Zusammenspiel die Position des Individuums in der Gesellschaft. Zudem können verschiedene Kapitalformen ineinander umgewandelt werden, beispielsweise wenn ein Kind aus gut situiertem Hause eine renommierte Privatuniversität besucht und damit sein ökonomisches Kapital in kulturelles Kapital umwandelt. Mit diesem Beispiel sind wir auch schon bei der Funktion des Bildungssystems in diesem Transfer zwischen verschiedenen Kapitalsorten angelangt.
Die Soziale Reproduktionstheorie (8) von Bourdieu und Passeron versucht nämlich zu erklären, wie soziale Ungleichheit und Bildungsungleichheit über Generationen hinweg fortbestehen und in der Gesellschaft reproduziert werden. Die soziale Mobilität ist nämlich sowohl in Österreich als auch in Italien, trotz des inklusiveren italienischen Bildungssystems, relativ gering. So dauert es in beiden Ländern durchschnittlich fünf Generationen, bis ein Kind, dessen Familie zu den untersten 10% der Einkommensverteilung gehört, das Durchschnittseinkommen erreicht. In anderen Ländern wie etwa Dänemark braucht es hierfür durchschnittlich nur zwei Generationen(9). Welche Erklärung kann Bourdieu für diesen und die zuvor angeführten bedrückenden Befunde zur Bildungsungleichheit anbieten? Er zieht die zuvor unterschiedenen Kapitalsorten zur Erklärung des Phänomens heran, im Wesentlichen die Übertragung dieser Kapitalsorten auf die nachfolgenden Generationen. Demnach sind Kinder aus wohlhabenden Familien nicht nur in Bezug auf das ökonomische Kapital, welches sie erben, privilegiert, sondern besitzen auch in den anderen Kapitalformen erhebliche Startvorteile. Wie im Beispiel zuvor können die sozialen Beziehungen der Eltern helfen, Praktika zu absolvieren (soziales Kapital), ein familiäres Umfeld, in welchem Bücher oder Musikinstrumente vorhanden sind, bietet den Kindern eine anregende Umgebung und wirkt förderlich auf deren Entwicklung (objektiviertes Kulturkapital). Zudem werden Verhaltensweisen, der ästhetische Geschmack sowie Wertehaltungen der Kinder durch Lernen am Modell von den Eltern übernommen (inkorporiertes Kulturkapital) und helfen ihnen in Oberschichtkontexten zurechtzukommen. Dieses letzte Beispiel ist durch Untersuchungen an Universitäten untermauert worden. Demnach sind die vorherrschenden impliziten Normen und Werte am Campus der Independence-Norms (Unabhängigkeits-Normen wie Individualismus oder Autonomie), mit welchen Personen aus Mittel- oder Oberschicht-Kontexten sozialisiert werden, näher und stehen häufig im Konflikt mit Interdependence-Norms, welche in working-class-Kontexten dominieren. Diese kulturelle Diskrepanz führt bei Studierenden aus der Arbeiterklasse zu einem unangenehmen, aversiven Gefühl und zu erhöhtem Stresserleben (10). Bildungsinstitutionen sind somit nicht als der neutrale Raum zu betrachten, in welchem nur die Leistung der Individuen Einfluss auf den Erfolg hat, sondern gefüllt mit einer gewissen Kultur, mit impliziten Normen, Werten und Verhaltensweisen, welche mit der sozialen Klasse der Studierenden interagieren. Dieser Kreislauf der Übertragung verschiedener Kapitalsorten führt demnach zu einer Art Teufelskreis, welcher soziale Ungleichheiten über Generationen hinweg aufrechterhält. Bourdieu spricht Bildungsinstitutionen wie Schulen und Universitäten außerdem eine wichtige Rolle bei der Aufrechterhaltung dieser Ungleichheiten zu, denn sie legitimieren vorherrschende Hierarchien, indem sie diese in scheinbar meritokratische Hierarchien transformieren. Zentral hierbei ist das meritokratische Image von Bildungsinstitutionen, welches ich bereits zuvor angeführt habe, denn dieses ermöglicht es, ungleiche Startbedingungen unsichtbar zu machen und sie in scheinbar legitime, leistungsbedingte Hierarchien zu transformieren, um somit soziale Hierarchien und Ungleichheiten zu reproduzieren. Diese Ungleichheiten werden von benachteiligten Gruppen akzeptiert, da sie aufgrund der meritokratischen Narrative legitim erscheinen, somit werden durch Akzeptanz von Herrschaft durch die Beherrschten langfristige Machtverhältnisse aufrechterhalten.
Mithilfe der Sozialen Reproduktionstheorie lassen sich also die bisher aufgeworfenen theoretischen Konzepte der Meritokratie, der sozialen Klassen und Kapitalformen mit den zuvor geschilderten ernüchternden Zahlen zum sozialen Aufstieg und der Realität von sozialer Segregation in Bildungsinstitutionen verbinden. Es sollte klar werden, dass die Funktion von Bildungsinstitutionen in der modernen kapitalistischen Gesellschaft nicht nur darin besteht, Möglichkeiten für den sozialen Aufstieg zu bieten, sondern dass sie gleichzeitig die bisher etablierte gesellschaftliche Hierarchie reproduzieren und legitimieren. Dieser Mechanismus der Reproduktion und Legitimation von sozioökonomischer Ungleichheit durch scheinbar meritokratische Bildungsinstitutionen zieht die Akzeptanz dieser Hierarchie durch benachteiligte Gruppen nach sich und verhindert somit ein Aufbegehren, selbst gegen extreme Formen der Ungleichheit.
Ausblick
Die obigen Ausführungen sollten klar machen, dass das Klassenzimmer sicherlich keinen neutralen Raum darstellt, in welchem nur Leistung über Erfolg oder Misserfolg entscheidet, sondern dass Klasse, Geschlecht oder Ethnizität wesentliche Einflussfaktoren sind, die in der Analyse berücksichtigt werden müssen. Es ist zentral, Bildungsinstitutionen vom Mythos der Meritokratie zu befreien, um die ungleichheitsverstärkenden und -legitimierenden Mechanismen im System zu begrenzen und neue emanzipatorische Mechanismen aus dem reichhaltigen Fundus reformpädagogischer Konzepte oder außerschulischer Konzepte wie etwa den Arbeiterschulen zu implementieren. Die liberale Vorstellung vom Aufstieg durch Bildung kann also auf persönlicher Ebene durchaus zutreffend sein, auf kollektiver Ebene, um etwa ökonomische Probleme wie Armut zu lösen, erweist sie sich jedoch als illusorisch. Vielmehr erfüllt das Bildungssystem in einer komplexen Gesellschaft auch komplexe Funktionen und kann und sollte daher nicht auf eine utopische Aufstiegserzählung reduziert werden. Simplifizierende meritokratische Narrative in Bezug auf Bildung, wie sie häufig von Liberalen und Konservativen propagiert werden, müssen hinterfragt werden, um Kinder oder Studierende aus der Unterschicht vom Mythos der individuellen Verantwortung für schulische Misserfolge zu befreien, um damit den Blick auf die gesellschaftlichen Mechanismen, welche Ungleichheit legitimieren und reproduzieren, zu lenken und diese fundamental zu ändern. Es sollte für progressive Akteure darum gehen, eine inklusive und progressive Bildungspolitik mit ungleichheitsreduzierenden Maßnahmen auf anderen Ebenen, wie einem Mindestlohn, Vermögens- und Erbschaftssteuern oder einer allgemeinen Reduktion der Arbeitszeit zu verbinden, um den Zugang zu Wohlstand in unserer Gesellschaft nicht mehr von einem nur scheinbar fairen Bildungssystem abhängig zu machen und jede Arbeit – , egal ob akademisch oder nicht – t angemessen, zu entlohnen und wertzuschätzen. Es gilt also, eine emanzipatorische Bildungspolitik, wie sie etwa in Italien vorherrscht, zu erhalten, auszubauen und auf alle Bevölkerungsgruppen zu erweitern und auf der anderen Seite wirtschaftliche Ungleichheit durch eine linke Wirtschafts- und Sozialpolitik zu reduzieren, denn nur so kann das emanzipatorische Versprechen durch Bildung verwirklicht werden.
Eine passende Metapher, um die zuvor beschriebenen Mechanismen zu illustrieren, liefert der US-amerikanische Soziologe Erik Olin Wright: Man stelle sich vor, ein Universitätsprofessor benote nach einer von vornherein festgelegten Kurve, wie viele Einsen, Zweien usw. es gibt. Die Studierenden werden dann entsprechend ihren Punkten in die vorher definierten Slots verteilt. Wenn daraufhin eine Soziologin den Zusammenhang zwischen akademischer Leistung und Benotung untersucht, würde sie zwar eine perfekte Korrelation feststellen, es wäre jedoch unsinnig zu behaupten, dass die Leistung die Notenverteilung definiert, denn die Verteilung der Noten stand bereits von Anfang an fest. So ähnlich verhält es sich auch in der Gesellschaft. Welche Position eine Person in der Sozialstruktur belegt, hat sicherlich etwas mit Leistung zu tun, welche Positionen und wie viele von jeder Art es gibt, liegt jedoch außerhalb der Kontrolle des einzelnen Menschen und kann auch nicht durch höhere Leistung verändert werden. Als Gesellschaft sollte man sich also fragen: Nach wie vielen Kategorien wollen wir benoten? Wie viele Personen haben in jeder Kategorie Platz? Sollte man Personen dafür bestrafen oder belohnen, in eine bestimmte Kategorie gefallen zu sein, welche schon im Vornherein definiert ist? Oder wäre es möglich, eine Gesellschaft ohne die Selektion nach Noten zu denken, in welcher jede und jeder seinen Platz findet?
– Kevin Klotz
Quellen:
- Statistik Austria (2020). Armut und soziale Eingliederung. EU-SILC 2020 http://www.statistik.at/web_de/statistiken/menschen_und_gesellschaft/soziales/armut_un d_soziale_eingliederung/index.html#:~:text=Im%20Jahr%202019%20ist%20in,16%2C9%25% 20der%20Gesamtbev%C3%B6lkerung.
- Tobisch A., Dresel M. (2020) Fleißig oder faul? Welche Einstellungen und Stereotype haben angehende Lehrkräfte gegenüber Schüler*innen aus unterschiedlichen sozialen Schichten? In: Glock S., Kleen H. (eds) Stereotype in der Schule. Springer VS, Wiesbaden. https://doi-org.uaccess.univie.ac.at/10.1007/978-3-658-27275-3_5
- Lehmann, R. H., & Peek, R. (1997). Aspekte der Lernausgangslage von Schülerinnen und Schülern der fünften Klassen an Hamburger Schulen: Bericht über die Untersuchung im September 1996. Behörde für Schule, Jugend und Berufsbildung, Amt für Schule.
- WIFO (2015). Niedriglohnbeschäftigung und Sozialversicherungsabgaben. http://www.hauptverband.at/cdscontent/load?contentid=10008.622010&version=14389281 49
- Statistik Austria, 2018
- https://www.faz.net/aktuell/karriere-hochschule/campus/frauen-in-der-wissenschaft-der-grosse-knick-nach-der-promotion-1413.html
- Hillmert, Steffen (2019). Meritokratie als Mythos, Maßstab und Motor gesellschaftlicher Ungleichheit. Tübingen. https://doi.org/10.13140/RG.2.2.20954.70081
- Bourdieu, P., & Passeron, J. C. (1990). Reproduction in education, society and culture (Vol. 4). Sage
- OECD (2018). A Broken Social Elevator? How to promote Social Mobility, OECD Publishing, Paris, https://doi.org/10.1787/9789264301085-en
- Stephens, N. M., Townsend, S. S., Markus, H. R., & Phillips, L. T. (2012). A cultural mismatch: Independent cultural norms produce greater increases in cortisol and more negative emotions among first-generation college students. Journal of Experimental Social Psychology, 48(6), 1389- 1393.
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