Keine Zeit für Hämorrhoiden
Donnerstag, 10:30,
wie ausgemacht und abgespeichert,
hier, bei dir, beim Zahnarzt,
die jährliche Zahnkontrolle.
Ausnahmsweise Mal optimistisch die Klingel läuten und in den Warteraum spazieren,
weil ich wirklich stolz auf meine Zähne bin,
sie täglich geputzt und mit Zahnseide Krieg geführt habe.
Jetzt, die Stunde der Wahrheiten:
Mundspülung rein, spülen und ausspucken, hinlegen und Mund auf, noch weiter auf,
weil du dein Maul zuvor ohnehin schon viel zu weit aufgerissen hast.
Währenddessen lege, nein presse ich meinen Daumen auf den Home-Button meines Iphones,
er wird nicht erkannt,
ich tippe meinen Pin ein, es ist mein Geburtstagsdatum,
wie oberflächlich, denken sich die anderen von mir, denke ich;
entsperre den Bildschirm und werfe einen Blick in den tickenden Kalender,
nur einen schnellen und kurzen Filmriss in den des nächsten Monats,
noch ein Treffen muss irgendwie hinein.
Ich mein, im Juni,
dem Inbegriff für jenen aufbrechenden Lebensabschnitt,
der der unendlichen Freiheit die Füße küsst,
hatten wir das schon geplant.
Der einzige und derzeit noch vom x verschonten Tag ist Ende September!
Heute ist erst August,
bekannt dafür,
noch der Liebe des Lebens hinterher zu laufen und ihr einen Sitzplatz in der vordersten Reihe der besseren Hälfte zu schenken,
bevor das dann nicht mehr klappt und man im Winter alleine auf dem roten Sofa vor dem kleinen Fernsehgerät sich schlafen legt.
So stell ich mir das Leben vor,
wie die Jahre vergehen und man plötzlich alt und mit tiefen Falten im Gesicht,
hoffentlich Lachfalten,
spazieren geht,
sich auf eine abgesessene Holzbank setzt und Menschen beobachtet,
so tut, als würde man erspüren, ihre Gedanken zu lesen, ihr Leben neu auszumalen, wer sie sind, wer sie waren und einmal sein werden.
Was Männer von vorbeigehenden Frauen denken,
so ganz ohne Mann und Kinder.
Ich mein, bei Männern, da geht das ja voll klar.
Der weiß, was er will!
Aber bei Frauen, die ihr biologisches Potenzial nicht ausgekostet haben.
Nein, schlimmer, es vergeudet haben, werden nie das Gefühl, mal abgöttisch geliebt zu werden, in sich tragen.
Bereuen soll sie es!
Denn sterben werden, nein das müssen sie sowieso!
Nur hatten sie im Unterschied zu anderen mehr Zeit für irrsinnige Urlaubstrips, überteuerte Theaterbesuche und Pflanzen gießen.
Vielleicht haben sie auch nichts von all dem gemacht.
Vielleicht treten sie auch richtig kräftig in die Wirtschafts-Pedale,
um sich um Gottes Willen produktiv und nicht schlecht zu fühlen,
um zu vergessen, dass ihre besten Jahre einmal waren.
Wollen nicht daran denken,
schon gar nicht morgens,
nach dem Aufstehen,
nach dem Abend davor, nach dem man sich einzureden versuchte:
heute, heute gehst du mal früh schlafen und schaust du auf deinen Schlafrhythmus und deine Energiekapazität,
die du, seit Wochen ignoriert, langsam, aber sicher Richtung Intensivstation manövrierst.
So stelle ich mir Familie vor.
Am besten Häuser bauen,
so richtig schön mit gepflegtem Garten und 3 Bäumen, für Vater, Sohn und den Holy Ghost,
2 Kinder, ein Junge und ein Mädchen, Henning oder Jos und Sofia sollen sie heißen,
zuvor aber noch heiraten und dann gleich einziehen,
um nicht auf die verrückte Idee zu kommen, sich neu zu entscheiden.
Während auf Arbeit getragen werden muss.
Non parlare, lavorare, heißt es da.
Und wenn mal nichts zu tun ist, dann tu wenigstens so, als hättest du irgendwas zu tun.
Denn im Konjunktiv 2 hört sich gleich schon alles viel besser an.
Da ist es nicht, wie’s ist.
Dort wird immer abgewogen, wie es sein könnte, aber nicht ist, ob jetzt psychische oder doch altmodisch körperliche Arbeit das richtige für dich ist.
Vielleicht eine Mischung,
aus Bewegung und Verzweiflung,
das wäre ganz gut,
aber vielleicht auch nichts von beiden.
Solange es heißt,
wenn man aufs Klo gehen will, aber schnell, denn die Leute warten.
Auf der Kloschüssel sitzend dann kurz die Mails und WhatsApp-Nachrichten checken,
aber weder ansehen noch antworten,
nur auf dem Sperrbildschirm lesen,
um sich nicht auf Arbeit mit schlechtem Gewissen zu begießen.
Gleichzeitig kacken und drücken,
aber nicht zu viel,
sonst wohl, melden sich die Hämorrhoiden.
Ja, meine scheiß Hämorrhoiden.
Und wie gesagt,
viel Zeit bleibt da nicht übrig,
schnell was essen und mal existieren für zu wenig Zeit und Raum zum Reden,
reden und leben wir an uns vorbei.
Anstelle mitzutanzen und zu supporten,
beneiden und judgen wir,
was letztendlich auch nur ein Gefühl in uns ist und dir und mir sagt, was du und ich eigentlich brauchen;
also richtig viel Geld, mehr Zeit für uns und vor allem ausgebildete Psychologen.
Wenn wir abends vor dem Schlafen gehen, noch kurz, aber nur kurz Instagram abchecken
und unser Profil so gestalten,
als wäre es unsere Homepage und wir sein Produkt,
zugänglich für alle und jeden.
Wenn wir Storys von Freunden liken
und die Nachrichten der Tagesschau aus Versehen übersehen.
Hauptsache die wie im Regenwald gemachten Fotos wildester und schönster Farben durchskippen,
damit die rot-violetten Kreise der Storys endlich verschwinden,
bis der Neid in uns steigt.
Und das nennen wir dann persönliche Vollkommenheit.
Wir tun vieles für uns und noch mehr für die anderen,
rasieren unsere Achseln,
schon recht als Frau, die begehrt werden soll,
aber auch nicht zu viel, sonst wissen wir, was geschieht
und austickende Männer gleich noch viel mehr.
Wir shoppen,
um Löcher in uns und unserer ambivalenten Konsumgesellschaft zu stopfen,
aber immerhin second hand,
und manipulieren unser Gewissen weiter,
verstecken Stellen, die uns, nein, den anderen, ein Dorn im Auge sind,
und rennen.
Wir rennen!
in einer schnelllebigen Zeit sind wir zu langsam,
zu langsam beim Essen, Kacken und Spazieren gehen,
(Bekanntlich kann man ja an der Gehgeschwindigkeit dein Lebenstempo abmessen;
wer auf die verrückte Idee gekommen ist, ist zu verprügeln,
ich meine beim Spazierengehen, dem einzigen Moment meines stressigen Tages, lass ich mich doch nicht auch noch stressen?)
Wir lassen uns auf Self-Care-Produkte ein,
die unser Leben verändern werden,
in nur 10 Schritten werden wir uns selbst neu kennenlernen,
anstelle 10 Minuten nackt vor dem Spiegel zu stehen und darin nichts weiter als ein komisches kleines behaartes Äffchen zu sehen,
das wir zu akzeptieren haben, wie’s ist,
mit krummen Beinen oder abstehenden Ohren,
kleinen Brüsten oder zu wenig Bart im Gesicht.
Weil es – ganz ehrlich – einfach niemanden juckt und niemand daran zu kratzen hat!
Sei also gesegnet und schrei in Ausnahmefällen auch Mal „Thank God“,
wenn es Körperteile gibt,
die du noch nie wahrgenommen hast und in ihrer größten Berührbarkeit unantastbar sind und es hoffentlich bleiben.
Vielleicht aber auch nicht,
Vielleicht erkennst du sie,
beim Einkaufen, wenn du keine passende Hose findest,
und die Verkäuferin neben dir sagt,
Tja, grad ist nur diese Linie in Mode.
Danke auch dafür,
wir Männer sind ja alle 1,80 groß und kräftig gebaut,
weshalb du am gekauften Ledergürtel noch zusätzlich ein weiteres Loch rein bohrst,
damit er dir passt,
am Rande der Abnormalität.
Der skandalöse Zahnfleischschwund
diagnostiziert von meinem Zahnarzt,
der mir so langsam Angst einjagt,
weil ich nicht weiß, ob er‘s ernst mit mir als Klient meint oder einfach nur Geld machen will.
Er sagte, ich sollte die Weisheitszähne reißen,
wenn’s mal in den Zeitplan passt,
weil sie in 10 bis 20 Jahren meinen Kiefer verbiegen könnten und mein Lächeln auf diese Weise im Arsch ist.
Beweise gibt es dafür keine,
aber in einer mit Konjunktiv 2 existierenden Welt wird es nie die eine Wahrheit geben.
Also dann,
das einzige, auf das ich jetzt noch warte und spare, sind nicht 2 Kinder oder eine Wohnung voller Grünpflanzen,
keine Self-Care-Produkte jeglicher Art oder Geld für eine Schneiderei,
sondern auf die Rechnungen der zukünftigen Dates mit meinem Zahnarzt in den kommenden Jahren!
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